Alter Orient und Ägypten: Geographischer Raum, Völker und Reiche

Alter Orient und Ägypten: Geographischer Raum, Völker und Reiche
Alter Orient und Ägypten: Geographischer Raum, Völker und Reiche
 
In engster Nachbarschaft entstanden gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. in Ägypten und in Mesopotamien - genauer gesagt in dessen südlichem Teil, den wir Babylonien nennen - zwei frühe Hochkulturen, die mit ihren Auswirkungen auf die antiken Kulturen Griechenlands und Roms zu direkten Vorfahren der abendländischen Kultur wurden. Doch obwohl sie annähernd zur gleichen Zeit einen frühen Höhepunkt erreichten, aus ähnlichen Wurzeln stammten und wie die jüngeren Hochkulturen am Indus und am Hwangho eng mit den wichtigsten Flusssystemen ihrer Region verbunden waren, gingen doch zwei völlig verschiedene Gebilde aus ihnen hervor.
 
Das alte Ägypten lag im Wesentlichen in einem auf beiden Seiten scharf begrenzten Flusstal, das sich erst weit im Norden verbreiterte und dann in die Ebene des Deltas überging. Die jährlichen Überschwemmungen des ganzen Talbodens durch den Nil im August/September brachten nicht nur die nötige Durchfeuchtung der landwirtschaftlichen Nutzfläche, sondern sorgten mit der natürlichen Düngung durch die mitgeführten Sedimente für das Andauern der Fruchtbarkeit. Überflutung und Rückgang des Wassers lagen ausreichend lange vor der Zeit der Aussaat, die Ernte konnte vor dem Beginn der nächsten Flut eingebracht werden. Trotz der von Jahr zu Jahr beträchtlich schwankenden Wassermenge blieb die Größe der vom Wasser erreichten Fläche insgesamt konstant, da wegen der steilen Ränder der Flussaue das Bewässerungsgebiet nicht beliebig ausdehnbar war. Das Wüstengebiet jenseits der Ränder konnte demgegenüber nur selten - und nicht von vornherein kalkulierbar - nach ausreichenden Niederschlägen landwirtschaftlich genutzt werden. Ägypten hatte daher nach außen hin feste Grenzen, innerhalb derer sich jährlich ein gleich bleibender Ablauf wiederholte - Herodot bezeichnete Ägypten als »das Geschenk des Nils«.
 
Babylonien nahm dagegen die breite und lange Schwemmebene ein, die die Unterläufe von Euphrat und Tigris gebildet hatten. Jenseits eines engeren Bereichs, der auch in den Jahren geringster Wassermenge vom Wasser dieser beiden Flüsse erreicht wurde, lagen hier ausgedehnte Flächen, die nur unregelmäßig versorgt wurden. Babylonien hatte somit keine festen Grenzen; der Umfang des bebaubaren und bewohnbaren Gebiets änderte sich jährlich. Die Hochflut von Euphrat und Tigris, die ihre Hauptwassermassen aus ihren Quellgebieten im Taurus und im Zagrosgebirge bezogen, erreichte Babylonien zudem im März/April, also erst kurz vor der Ernte. Dass Wasser in Babylonien überdies immer auch einen bedrohlichen Aspekt hatte, weil hier kaum Siedlungsplätze zu finden waren, die nicht hochwassergefährdet gewesen wären, beweisen die Nachrichten von Überschwemmungen, die als »Sintflut« in die altorientalischen Mythen Eingang gefunden haben.
 
Auf der Grundlage älterer Entwicklungen in den Nachbarregionen konnte sich daher in Ägypten nach einer Anfangsphase, in der die Beherrschung der ökologischen Besonderheiten des Flusstals immense Anstrengungen erforderte, das Geflecht derjenigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen herausbilden, die wir unter dem Begriff der »frühen Hochkultur« zusammenfassen: eine hierarchisch gegliederte (geschichtete) Sozialordnung, spezialisierte Berufsgruppen, eine professionelle Priesterschaft, die Existenz einer Verwaltungsbürokratie, Monumentalbauten und vergleichbar entwickelte künstlerische Ausdrucksformen, das Vorhandensein einer Schrift oder schriftgleicher Bedeutungsträger. Da die Entwicklung in Ägypten aber kaum Herausforderungen durch Veränderungen der Umwelt kannte und selten Angriffen von außen oder Überlagerungen durch fremde Gruppen ausgesetzt war, war sie innerhalb der festen Grenzen Ägyptens im Wesentlichen auf sich selbst bezogen. Die frühe Hochkultur Babyloniens, die gleichfalls auf der Ausbildung der gesellschaftlichen Grundstrukturen in ihrem weiteren Einzugsbereich aufbaute, strahlte dagegen in ihre Randgebiete zurück und ließ dadurch trotz der deutlich voneinander unterschiedenen Organisationsformen eine annäherungsweise allgemein-altorientalische Prägung entstehen. Weil sich das System der Kanalbewässerung der Felder kaum variieren ließ, blieben die wirtschaftlichen Grundstrukturen Babyloniens zwar einigermaßen stabil. Seine politischen und gesellschaftlichen Grundbedingungen änderten sich - besonders wegen des fortwährenden Eindringens neuer Mächte über die offenen Grenzen - jedoch rasch.
 
Durch eine Bevölkerungsexplosion in der Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. - möglicherweise hervorgerufen durch die Einwanderung der Sumerer, die sich seit dem Ende des 4. Jahrtausends in Babylonien nachweisen lassen - erfuhr die städtische Kultur einen beträchtlichen Aufschwung. Der auf Rohstoffmangel in Babylonien und Ägypten zurückgehende Fernhandel verband Babylonien mit dem Gebiet des heutigen Afghanistan, mit Anatolien und der Induskultur; seit 2500 v. Chr. bestanden Handelsbeziehungen zwischen Ägypten und der phönikischen Küste sowie Ostafrika. Die politische Geschichte Vorderasiens wurde bis in die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. von den Rivalitäten der Stadtstaaten (z. B. Ur, Uruk, Eridu, Nippur, Kisch, Eschnunna, Lagasch, Mari, Susa, Umma) bestimmt; an der Spitze der Stadtstaaten standen Herrscher, die sich auch als Vertreter des jeweiligen Stadtgottes verstanden. Durch eigene Inschriften historisch sicher belegt sind die sumerischen Könige der 1. Dynastie von Ur und von Lagasch (seit 2550 v. Chr.). Während sich Ägypten politisch bereits um 2900 v. Chr. zusammengeschlossen hatte, bildeten sich in Mesopotamien über die begrenzten Reiche dieser Lokalfürsten hinaus überregionale Territorialstaaten erst am Ende des 3. und Anfang des 2. Jahrtausends. EannatumEannatum von Lagasch beherrschte kurzzeitig alle Städte Babyloniens; der erste entstehende Zentralstaat des Lugalzaggesi von Umma, des »Herrn aller Länder«, wurde von Sargon von Akkad unterworfen, der die semitische Dynastie von Akkad (um 2230 bis um 2090 v. Chr.) begründete. Nach dem Zerfall in die alten Stadtstaaten und der Fremdherrschaft der Gutäer, einem aus dem Zagrosgebirge eingedrungenen Bergvolk, gelang dem Sumerer Urnammu, dem Begründer der 3. Dynastie von Ur (um 2050 bis 1950 v. Chr.), erneut die Bildung eines einheitlichen mächtigen Reichs. Nach der anschließenden Zersplitterung konnte Hammurapi aus dem zuvor unbedeutenden Babylon um 1700 v. Chr. die Einzelstaaten wieder zusammenfassen. Eine gewisse Beruhigung, die sich in langen Jahrhunderten des inneren und äußeren Friedens äußerte, scheint in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends eingekehrt zu sein, als die Dynastie der aus dem Zagrosgebirge stammenden Kassiten von ihrer Hauptstadt Dur-Kurigalzu aus Babylonien bis zur Eroberung durch die Elamiter (um 1155 v. Chr.) beherrschte.
 
Die insgesamt kontinuierlicher als in Vorderasien verlaufende ägyptische Geschichte erfuhr in dieser Zeit dagegen nur zwei tiefe Einschnitte: den Untergang des Alten Reiches in einer sozialen Revolution (um 2100 v. Chr.) und die Herrschaft der vorderasiatischen Hyksos (etwa 1650-1550 v. Chr.), die nach der Blütezeit des Mittleren Reiches Ägypten eroberten und als Könige regierten. Die Zeit nach 2000 v. Chr. markierte für den Vorderen Orient den Beginn einer neuen Phase. Mithilfe der in Babylonien ausformulierten Regeln der wirtschaftlichen und politischen Verwaltung wurden nun auch andere Regionen zu eigenständigen Machtgebilden, deren Bestandteile vorher nur lose miteinander verzahnt gewesen waren; es entstanden die Flächenstaaten der Hurriter, der Hethiter und der Assyrer, in denen sich neue Formen der politischen Struktur entwickelten. Während die Hethiter ein Reich gründeten, das stark auf einer relativen Selbstständigkeit der Städte und Regionen beruhte, entstand in Assyrien das erste Beispiel eines »imperialistischen Systems« mit ungeheurem Expansionsdrang. Mit dem Ende der späten Bronzezeit zerstörten die aus der Ägäis kommenden Seevölker die Stadtstaaten Syriens und Palästinas, die phönikischen Städte in Kanaan dehnten ihre Macht aus, das Hethiterreich brach zusammen, Babylonien und Assyrien konnten ihre Staatlichkeit gegen die nomadischen Aramäer nur mühsam behaupten, die Königreiche Israel und Juda entstanden, Ägypten wurde durch innere Schwierigkeiten geschwächt. Im 10. Jahrhundert v. Chr. begann der Wiederaufstieg Assyriens, der in Auseinandersetzung mit den Aramäerstaaten Syriens, den späthethitischen Staaten Südostanatoliens, Israel sowie Urartu zum assyrischen Großreich führte, das seinerseits 612 v. Chr. durch Meder und Babylonier zerstört wurde. Das neubabylonische Reich, das unter Nebukadnezar II. zu großer Prachtentfaltung gelangte, fiel 539 v. Chr. an die von Kyros II., dem Großen, geführten Perser, die 525 v. Chr. auch Ägypten eroberten. Der Siegeszug Alexanders des Großen (um 330 v. Chr.) leitete dann die Hellenisierung des Alten Orients ein, der aber in den Traditionen der Antike und - in der Überlieferung durch das Alte bzw. das Neue Testament - auch des Christentums fortwirkte.
 
Prof. Dr. Hans J. Nissen

Universal-Lexikon. 2012.

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